Die Grenzen werden dich nicht schützen – aber sie könnten dich töten

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Durch koordinierte Bombenanschläge und Schusswechsel in Paris, zu denen sich der Islamische Staat bekannte, wurden am 13. November 129 Menschen getötet. Obwohl dies nur das jüngste einer ganzen Serie von Attentaten ist, hat dieses eine andere Art von Aufmerksamkeit erregt als die Massaker in Suruç und Ankara, bei denen 135 Personen getötet wurden. Die Leben der jungen Aktivist*innen, die den kurdischen Kampf gegen den IS unterstützen – bisher der einzige bodengebundene Einsatz, der die Ausbreitung des Islamischen Staates blockierte – werden anders gewertet als die Leben von Westeuropäer*innen.

Das selbe gilt für die Leben der Millionen getöteten oder aus ihrer Heimat in Syrien vertriebenen. Europäische Nationalist*innen waren sofort zur Stelle, um die Anschläge mit der sogenannten “Flüchtlingskrise” zu verknüpfen. Gestützt auf die Behauptung, bei einem der Angreifer sei ein zu einem über Griechenland eingereisten Geflüchteten gehörender Pass gefunden worden, titelten britische Medien: »Jihadisten schlichen sich als falsche syrische Flüchtlinge nach Europa«. Diese Opportunist*innen möchten das noch frische Blut auf Paris Straßen nutzbar machen, um ihr Projekt der Schließung der Festung Europa zu Ende zu führen.

Ironischerweise fliehen viele derjenigen, die versuchen, Europa aus dem Mittleren Osten zu erreichen, vor ähnlichen, vom IS (und anderen Gruppen) durchgeführten Anschlägen. Deshalb überqueren sie Grenze um Grenze, riskieren dabei ihr Leben, um ein Europa zu erreichen, das sie nicht willkommen heißt. Ihnen den Fluchtweg abzuschneiden würde sie in vom IS kontrollierten Gebiet einschließen, was möglicherweise die Ressourcen des Islamischen Staates mehren und sicherlich den Frust verstärken würde, der die Menschen in die Hände des Islamistischen Fundamentalismus treibt.

Das war den Leuten, die die Angriffe geplant haben, sicher klar. Möglicherweise war es sogar eines ihrer Ziele.

IS im Osten, Grenzen im Westen: Das Dilemma der Geflüchteten.

Es gibt frappierende Ähnlichkeiten zwischen den Absichten europäischer NationalistInnen und den FundamentalistInnen des Islamischen Staates. Die NationalistInnen möchten die Welt geteilt sehen in “gated communities”, in denen die Zugehörigkeit zu einer Nation als eine Art Kastensystem fungiert; die europäische Geschichte zeigt, dass in einer solchermaßen geteilten Welt die finale Antwort auf jedes Problem Krieg ist. Die FundamentalistInnen hingegen hoffen, die islamistische Identität als Basis eines globalen Jihad in Stellung zu bringen.

In dieser Hinsicht ist der einzig wirkliche Unterschied zwischen dem IS und den europäischen NationalistInnen das Kriterium der Zugehörigkeit in der Neuen Welt Ordnung©: Nationalität oder Religion? Sowohl der IS als auch die NationalistInnen wollen, dass die Konflikte des 21. Jahrhunderts zwischen klar definierten und konstruierten »Völkern«, die von konkurrierenden Mächten regiert werden und nicht zwischen den Herrschenden und den Beherrschten als Ganzes ausgetragen werden.

Selbstverständlich werden der Ausbau der Festung Europa und die nächste Welle von Luftschlägen dargestellt werden als ein Weg, Europäer*innen vor fremden Barbaren zu schützen, nicht als ein Mittel, den globalen Konflikt zu eskalieren.

Grenzen: Was uns trennt.

Zurück zum 11. September 2001, als Al-Qaeda Anschläge in Manhattan und Washington verübte. Als Antwort befahl der damalige Präsident George W. Bush den Einmarsch von US-Truppen in Afghanistan und Irak, um »die Welt für die Demokratie zu sichern«. Dabei bediente er sich bei einem anderen Präsidenten, der einen Krieg zur Beendigung aller Kriege rechtfertigte, während er Immigrant*innen dämonisierte. Eine von Bushs Rechtfertigungen war, dass durch die Besatzung dieser »Schurkenstaaten« die Orte ausgeschaltet werden könnten, von denen aus der Terror koordiniert wurde. Die Bush-Administration behauptete, durch Akte der selben willkürlichen Gewalt, die überhaupt erst derart viel Feindseligkeit erzeugte, US-Bürger*innen schützen zu können.

Anarchist*innen sind dem nicht aufgesessen. Als Antwort auf die Anschläge des 11. September und die militärischen Operationen die folgten, plakatierten wir die Wände überall in den Staaten mit der Aussage »Deine Anführer können dich nicht schützen, aber sie können dich töten.«

Wie wir prognostizierten, konnte der Einmarsch in den Irak und nach Afghanistan den Mittleren Osten nur destabilisieren und neue Generationen verbitterter islamistischer Kämpfer hervorbringen. So wie Al-Qaeda ursprünglich von der CIA finanziert und trainiert wurde, ist der IS heute mit genau dem Militärgerät ausgestattet, das in den Irak entsendet wurde, um die Region der Kontrolle der USA zu unterwerfen. Wie wir bereits 2006 im Rolling Thunder #3 [9MB, PDF ] schrieben, hätte die Bush-Administration ihr erklärtes Ziel, islamistischen Widerstand zu erzeugen, kaum effektiver erreichen können:

»Mit schierer Weltherrschaft kann ein repressives Regime nichts anfangen. Sobald keine Barbaren mehr an die Tore klopfen, auf die als das größere Übel gezeigt werden kann, werden die Leute ruhelos – Ein Beispiel dafür ist die auf den Fall der Berliner Mauer folgende Dekade, als im Vakuum, das die kommunistische Bedrohung hinterließ der interne Widerstand wuchs und wuchs. Krieg ohne Ende könnte die Leute ebenfalls ruhelos werden lassen. Allerdings hält er sie auch damit beschäftigt, darauf zu reagieren, wenn nicht darin zu sterben – anstatt an der Wurzel des Problems anzusetzen.

Der militante Islam, einst ein Garagen-Startup, ist inzwischen eine globale Bedrohung, bereit, den kommunistischen Block zu ersetzen. Der westliche Kapitalismus hat seinen Einfluss und seine Kontrolle so weit ausgedehnt, dass externe Opposition nun von zuvor peripheren Teilen der Welt wie Afghanistan ausgehen muss; damals 2001 waren nur wenige Fanatiker aus dieser Peripherie genug, um die neue Ära des Terror-gegen-Demokratie einzuleiten. Es wird allerdings sehr viel mehr Fanatiker brauchen, um sie aufrecht zu erhalten und die US-Außenpolitik wird sie produzieren.«

Die Intensivierung von Sicherheitsstaat und Grenzkontrollen wird nur die Spannungen verschärfen, die die Menschen aus Frankreich und Großbritannien ebenso wie im Irak und in Syrien in die Reihen des IS treiben. Ein hartes Durchgreifen an den Außengrenzen Europas bedeutet ein hartes Durchgreifen auf jeden Aspekt des Lebens innerhalb der Festung. Spezialeinheiten wurden zur Unterstützung der britischen Polizei eingesetzt; der Präsident der New Yorker Polizei hofft, die Überwachung von Telekommunikationsgeräten zu intensivieren; der frühere französische Präsident Sarkozy möchte jede Person, die verdächtigt wird radikal zu sein, zwingen, eine elektronische Fessel zu tragen. Dies ist nicht nur eine Frage davon, wie Geflüchtete behandelt werden, es geht darum, wie das Leben für alle von uns in einer Ära ständig verstärkter staatlicher Kontrolle sein wird.

Das neue normal.

Die Anschläge in Paris sind zweckdienlich für diejenigen, die damit beschäftigt sind, soziale Unruhen zu unterdrücken. Wenn Hillary Clinton sagt, »wir befinden uns nicht im Krieg mit dem Islam, wir befinden uns im Krieg mit gewalttätigem Extremismus«, impliziert das, dass jede*r die*der für sich selbst gegen das harte Durchgreifen aufsteht als gewalttätige*r Extremist*in behandelt wird. In den Vereinigten Staaten wurde die Nationalgarde im letzten Jahr drei mal eingesetzt, um Proteste gegen Polizeimorde niederzuhalten – nicht nur der IS tötet. In Europa, wo es sehr heftige Proteste gegen die Austerität gab, wurden in den letzten drei Jahren 68 Anarchist*innen unter Terrorismusvorwürfen verhaftet – als Vergeltung für Aktivitäten in sozialen Bewegungen, nicht für Anschläge auf Zivilist*innen.

Von Washington und Paris nach Raqqa und Mosul, haben die, die die Macht haben keine wirklichen Lösungen für die ökonomischen, ökologischen und sozialen Krisen unserer Zeit; sie konzentrieren sich mehr darauf, die sozialen Bewegungen zu unterdrücken, die eine Gefahr für sie darstellen. Aber wo immer solche Bewegungen zerschlagen werden, wird Unzufriedenheit in Organisationen wie den IS, die ihre Probleme lieber durch religiösen Krieg als durch kollektiven revolutionären Umbruch lösen, kanalisiert werden.

Also kann das harte Durchgreifen die Situation nur schlimmer machen. Härtere Grenzkontrollen werden uns nicht vor Anschlägen wie dem in Paris schützen, aber weiter den Tod unzähliger Geflüchteter verursachen. Luftschläge werden Selbstmordattentäter nicht stoppen, aber neue Generationen mit Hass auf den Westen hervorbringen. Überwachung wird nicht jedes Attentat verhindern, aber soziale Bewegungen treffen, die eine Alternative zu Nationalismus und Krieg aufzeigen.

Wenn die Befürworter*innen der Festung Europa uns erfolgreich unterdrücken und spalten, werden wir uns sicher in einem Kampf gegeneinander wieder finden: teile und herrsche. Unsere einzige Hoffnung ist es, gemeinsame Sache zu machen gegen unsere Herrschenden; Brücken zu bauen über die Begrenztheiten von Nation und Religion bevor die ganze Welt auf der Schlachtbank des Krieges zerlegt ist.

In diesem Zusammenhang können wir Inspiration aus all jenen ziehen, die in den letzten Monaten den Grenzen trotzten und so zeigten, dass diese künstlichen Trennungen überwunden werden können. Im August durchbrachen Hunderte die Grenze von Griechenland nach Mazedonien. Im September, als Züge, die angeblich Geflüchtete durch Ungarn an die österreichische Grenze bringen sollten, stattdessen in einem von Zäunen und Riotcops umgebenen Internierungslager ankamen, sperrten die Passagiere sich selbst im Zug ein, verweigerten die Nahrungs- und Wasseraufnahme, durchbrachen schließlich den Zaun und flohen über die Felder zur Autobahn. Im Oktober, stürmten über hundert Menschen den Eurotunnel zwischen Frankreich und London. Vor nur wenigen Wochen brachen tausende wiederholt durch die Polizeiketten, die Slowenien und Österreich trennten. In jedem dieser Fälle sehen wir Menschen zusammenarbeiten, um die Schwachstellen in den Mauern zu finden, die die Menschheit teilen. Ohne diese Anstrengungen hätten die europäischen Regierungen sicherlich noch weniger getan, um die Geflüchteten zu unterstützen.

Durch das Aufbrechen der Grenzen und die Unterstützung von anderen, die sie durchbrechen, können wir denen, die aus Syrien – und Mexiko und all den anderen Kriegsgebieten der Welt – fliehen zeigen, dass sie Mitstreiter*innen auf der anderen Seite der Zäune haben. Das ist unsere größte Chance, sie davon abzuhalten, die Möglichkeit gemeinsamer Solidarität aufzugeben und sich Organisationen wie dem IS anzuschließen. Ebenso wird der IS weniger dazu fähig sein, auf potentielle KonvertitInnen durch den Hinweis auf den Schaden, der Muslimen in der ganzen Welt zugefügt wird, einzuwirken, je mehr wir den Sicherheitsapparat und die Kriegsmaschinerie stören. Jedes mal, wenn wir das tun ergreifen wir die Initiative, den wesentlichen Kampf unserer Zeit zu bestimmen: Nicht Terroristen gegen Regierungen, nicht Islam gegen den Westen, sondern die ganze Menschheit gegen die Strukturen und Ideologien die uns gegeneinander in Stellung bringen.

Den Weg zum Ausbruch aus der Knastgesellschaft weisen.