Von Deutschland nach Bakur

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Ein Interview

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Seit seiner erfolgreichen Verteidigung Kobanês gegen den IS vor einem Jahr zog der kurdische Widerstand internationale Medienaufmerksamkeit auf sich. Inzwischen haben die Experimente, eine staatenlose Gesellschaft in den autonomen Kantonen von Rojava aufzubauen, AnarchistInnen auf der ganzen Welt fasziniert. Aber um den kurdischen Widerstand in Rojava (West-Kurdistan) zu verstehen, müssen wir den Blick auf die Kämpfe um Freiheit und Autonomie in der Region ausweiten. Wir haben zwei Mitglieder eines internationalen anarchistischen Netzwerks in Deutschland, die Zeit in Bakur (Nord-Kurdistan) verbrachten und von den dortigen Kämpfen lernten, interviewt. Ausgehend von einem historischen Überblick über die Entstehung der kurdischen Bewegung und des »neuen Paradigma« der jüngsten Dekade der PKK beschreiben sie, dass ihre eigenen Erfahrungen in Kurdistan ihr Verständnis von anarchistischen Kämpfen anderswo auf der Welt neu ausrichteten.

Europäische AnarchistInnen über den kurdischen Kampf

In unserem Feature „Den kurdischen Widerstand verstehen“ und im Ex-Worker podcast, Episode 36 und 39, konzentrierte sich unsere Diskussion des kurdischen Kampfes für Freiheit und Autonomie auf Rojava (West-Kurdistan). Wichtige Kämpfe finden aber auch in anderen Teilen Kurdistans statt, von denen manche nicht so viel Aufmerksamkeit erhielten. Könntet ihr etwas zum historischen Hintergrund für die Entstehung der kurdischen Bewegung erläutern und die sich heute entfaltenden Kämpfe in Bakur (Nord-Kurdistan) darstellen?

Okay, die Geschichte beginnt vor langer, langer Zeit mit Leuten, die um ein Lagerfeuer im Oberen Mesopotamien sitzen. Vor rund 4300 Jahren bildete sich eine neue soziale Struktur im Mittleren Osten heraus – eine höchst aggressive Form sozialer Organisation, die über die alten gemeinschaftlichen Strukturen herfiel: Der sumerische Priesterstaat. Der historische Prozess der zur Revolution in Rojava führt, kann nicht ohne Anerkennung der langen Tradition des Widerstandes und der Aufstände in den kurdischen Regionen an den Gebirgsketten Zagros und Tauros verstanden werden. Diese Region war möglicherweise das erste Ziel von Kolonialisierung des aufstrebenden Staatensystems war. Dessen Wurzeln liegen im Unteren Mesopotamien, dem heutigen nördlichen Irak. Es handelt sich um den Vorgänger des heutigen westlichen Staatensystems. Die PKK und die kurdische Bewegung verorten sich heute selbst in dieser langen Tradition des anti-staatlichen Widerstands und sehen sich als 29. kurdischen Aufstand der Geschichte. Die kurdischen Regionen lagen schon immer an den Rändern starker Imperien, sie wurden von ziemlich jeder imperialistischen Struktur angegriffen, die sich in den letzten paar Tausend Jahren in der Region herausbildete. Wegen des bergigen Terrains und der dezentralisierten sozialen Organisation der KurdInnen in Dorf-Konföderationen konnten diese Regionen nie völlig erobert und assimiliert werden. Rückblickend trotzten sie tausende Jahre den Versuchen äußerer Mächte, in ihr Territorium vorzudringen – dabei wurde auch versuchten diese Mächste immer wieder mit feudalen kurdischen Eliten zu kooperieren, um Unterwerfung zu sichern und Rebellion zu verhindern (oder wenigstens zu isolieren).

Wenn wir ins 20. Jahrhundert vorspulen, können wir diese Dynamik immer noch im Zuge des Aufkommens des modernen regionalen Nationalstaatensystems beobachten. Der türkische Staat wurde 1923 nach dem Kollaps des Osmanischen Reiches, das die türkischen Territorien im Osten beherrschte aber ihnen kulturelle und sogar politische Autonomie garantierte, gegründet. Während des Ersten Weltkrieges verbündeten sich die Osmanen mit den Mittelmächten und schmiedeten so politische und ideologische Verbindungen mit Deutschland, die bis heute anhalten. Nach der Niederlage der Mittelmächte und dem Kollaps des Osmanischen Reiches, kämpften türkische Nationalisten für ihren eigenen Staat. Von seiner Gründung an war die Ideologie des neuen Staates ultra-nationalistisch. Die NationalistInnen riefen die Türkei als einen Staat für alle TürkInnen aus und definierten alle innerhalb seiner Grenzen als Teil der großen türkischen Nation, nicht ohne ihren Staat mit der Idee ethnischer Überlegenheit zu verknüpfen. Im Ergebnis wurden all jene, die eine andere ethnische oder nationale Identität beanspruchten, seien es AssyerInnen, ArmenierInnen, KurdInnen oder andere, wie VerräterInnen und separatistische TerroristInnen behandelt. Bis in die 1990er waren Kurdisch und andere nicht-türkische Sprachen in der Türkei offiziell verboten – nicht nur in Staatsangelegenheiten, sondern sogar im privaten Gebrauch.

Parade türkischer Soldaten.

Wir sprechen über Geschichte weil dies wichtig ist, um die Härte der Bedingungen zu verstehen, in der die Partiya Karkeren Kurdistan (PKK), die ArbeiterInnenpartei Kurdistans, gegründet wurde. Die zeitgenössische kurdische Bewegung entstand während der Jugendrevolte 1968 in der Türkei, bei der eine revolutionäre Unruhe unter den sozialistischen Organisationen, radikalen Studenten, Arbeiterinnen und Kleinbauern wuchs. In den 1970ern versammelte sich eine Gruppe kurdischer und türkischer FreundInnen um Abdullah Öcalan, Kemal Pir, Haki Karer und anderer in Ankara und begann, die kurdische Frage aus einer revolutionären Perspektive zu debattieren. Eine ihrer zentralen Ideen war, dass Kurdistan eine interne Kolonie darstelle und von kolonialer Unterdrückung befreit werden müsse um eine sozialistische Utopie aufzubauen. So wurde die PKK 1978 gegründet und begann, sich nach den Grundlagen klassischer marxistisch-leninistischer Theorie zu organisieren. Unter dem »alten Paradigma«, wie sie es heute nennen, zielte die PKK darauf, eine politische Avantgarde zu organisieren und startete einen revolutionären Krieg zur Befreiung der kurdischen Territorien und zur Errichtung eines kurdischen Staates, der dann genutzt werden sollte um den Sozialismus aufzubauen.

Im stark repressiven Klima der Türkei in den 1970ern waren viele entschlossen für ein anderes Leben zu kämpfen und die Strategie und Überzeugung der PKK breiteten sich rapide aus. 1984 starteten sie einen Guerillakampf der in einem brutalen Bürgerkrieg eskalierte. Die Guerillabewegung erhielt erhebliche Unterstützung aus der Gesellschaft und konnte in vielen Regionen nicht von der Bevölkerung insgesamt unterschieden werden. Als Antwort starteten die türkische Armee, die Militärpolizei und der Geheimdienst Vergeltungsfeldzüge um die RebellInnen zurück zu schlagen und die Bevölkerung einzuschüchtern. Unter der Schutzherrschaft des NATO-gesponserten anti-kommunistischen Programms »Gladio« zerstörten sie um die 4.000 Dörfer und töteten mehr als 40.000 Menschen.

Ein kurdisches Dorf in Bakur.

Unter dem Eindruck dieses Blutvergießens begann die kurdische Befreiungsbewegung in den frühen 1990ern einen Prozess der Reflexion und Selbstkritik. Zusätzlich zur brutalen staatlichen und paramilitärischen Repression wurde die Guerillabewegung von internen Problemen mit manchen PKK-Führern, die sich wie feudale Warlords mit einer militaristischen Logik der Blutrache verhielten, geplagt. Es wurde deutlich, dass lediglich militärischer Kampf nichts lösen würde. Das alte Paradigma führte zu erbarmungslosem Krieg und Feindseligkeit und konnte weder soziale Probleme innerhalb der kurdischen Gebiete angehen, noch sie effektiv vor äußeren Bedrohungen schützen. Die PKK erklärte 1993 eine einseitige Waffenruhe, womit sie den Bürgerkrieg unterbrachen und der Formulierung eines anderen Paradigmas für gesellschaftliche Transformation Raum gaben. Die kurdische Bewegung meisterte viele Rückschläge und Herausforderungen während dieses Prozesses der Reflexion – wiederholte Versuche des türkischen Staates, erneute Ausbrüche des Bürgerkriegs zu provozieren, die Verschleppung und Inhaftierung des PKK-Vorsitzenden Abdullah Öcalan und der Aufstieg antiquierter feudalistischer kurdischer Parteien wie dem Barzani Clan im Nordirak. Doch trotz dieser Herausforderungen entwickelte die kurdische Bewegung zwischen 1993 und 2005 was sie nun »das neue Paradigma« nennen und welches die Ziele und Strategien der kurdischen Bewegung tiefgreifend veränderte.

Ein bedeutender Fortschritt in diesem Prozess interner Veränderung kam aus der kurdischen Frauenbewegung. Tausende von Frauen traten während des Bürgerkrieges den Guerillastreitkräften bei. Oft fanden sie sich im Konflikt mit antiquierten Kommandeuren, die versuchten sie in ihren traditionellen Geschlechterrollen zu halten und sie nicht gleichberechtigt behandelten. In Reaktion darauf gründeten sie komplett autonome weibliche Guerillaeinheiten, was einen ziemlich revolutionären Schritt in ihrem kulturellen Umfeld bedeutete. Sie eroberten sich das Recht zurück, zu kämpfen und organisierten sich selbst als Teil der Bewegung wobei sie allerdings autonom ihre eigenen Entscheidungen trafen. Wie unsere FreundInnen uns berichteten, kämpften sie auch anders: In rein männlichen oder gemischten Einheiten hielt sich konkurrierendes Verhalten, ein Erbe vieler Generationen hierarchischer Gesellschaftsordnung das bis heute ein Problem darstellt. Die Dynamik unter den Kämpferinnen war weniger konkurrenzförmig; das zeigt die Anzahl gefallener Kämpferinnen. Die meisten Verluste ereigneten sich während des Rückzugs von Aktionen, auf dem mackerige Attitüde und der Stolz über den Sieg unter den männlichen Kämpfern ziemlich verbreitet waren. Im Kontrast tendierte die Aufmerksamkeit in den Fraueneinheiten dazu, lang-anhaltender zu sein und ihre Kämpferinnen zeigten sich weniger anfällig für diese potentiell fatale Vermessenheit.

Kurdische Kämpferinnen.

Zusätzlich zu den autonomen militärischen Einheiten bildeten Frauen auch soziale und politische Komitees um die Probleme patriarchaler Unterdrückung zu besprechen. Heute ist der Kopf der Frauenbewegung die Komalen Jinen Kurdistan (KJK), die Konföderation der Frauen in Kurdistan, die Teil der KCK, der Allgemeinen Konföderation, ist, Entscheidungen aber unabhängig trifft. Zudem kommt der Frauenbewegung ein Vetorecht gegen die Entscheidungen, die von Männergruppen in allgemeinen Versammlungen getroffen werden, zu. Unter ihrem Einfluss hat die kurdische Bewegung traditionsreiche patriarchale und hierarchische Muster in ihrem Organisationsmodell hinterfragt.

Durch einen ideologischen Flügel um ihren Vorsitzenden Abdullah Öcalan, der die Idee des demokratischen Konföderalismus nach einer tiefgreifenden historischen Analyse des hierarchischen Systems des Mittleren Osten und darüber hinaus formulierte, wurde der Prozess hin zum neuen Paradigma innerhalb der PKK vorangetrieben. Ausgehend von den antiken sumerischen Priesterstaaten, die die ursprüngliche Herausforderung für die egalitäreren und oft frauenzentrierten Formen sozialer Organisation, die ihnen vorausgingen, darstellten, betonte er, dass sich die Probleme der Macht, Unterdrückung und Gewalt aus dem historischen Prozess der Zivilisation selbst entwickelten. Die Probleme der Unterdrückung, des Krieges und Suche nach Macht hängen mit der Institutionalisierung patriarchaler Verhältnisse in staatlichen Strukturen und des Priestertums zusammen. Das kapitalistische System, der Nationalstaat und Industrialismus sind Konzepte, die sich aus diesen hierarchischen und männerdominierten Denkweisen entwickelten. Öcalan bediente sich auch bei den Ideen des amerikanischen Anarchisten Murray Bookchin bei seiner Analyse des utopischen Potentials des demokratischen Konföderalismus und betonte die Bedeutung davon, ein neues ökologisches, demokratisches und geschlechterbefreiendes Paradigma zu akzeptieren. Zentral für seine Konzeption des »neuen Paradigma« der PKK war die Idee des Kommunalismus, nach dem jeder Teil der Gesellschaft sich selbst organisieren und in dezentralisierten, kommunitaristischen Konföderationen zusammen kommen sollte.

Von diesem neuen Paradigma inspiriert wurde 2005 die Komalen Ciwaken Kurdistan (KCK), die Konföderation der Gesellschaften Kurdistans, gegründet. Ihren Kern stellt ein System von Räten der Nachbarschaften, Dörfer und Städte dar. Dieses System dient als starke Gegenmacht zur Unterstützung der Entwicklung von Autonomie gegenüber Nationalstaat und kapitalistischer Ökonomie. Die KCK stellt die Hauptversammlung des Rätesystems in Kurdistan dar, an der Delegierte von all den teilnehmenden kurdischen Regionen teilnehmen. Sie wählt ein Organ mit dem Mandat, sich um für alle Regionen bedeutende Belange wie diplomatische Stellvertretung auf globaler Ebene, ideologische und strategische Vorschläge oder Verteidigungsfragen zu kümmern. Sie verwalten außerdem die Volksverteidigungskräfte (HPG), die alle bewaffneten Flügel aller Teile der Bewegung einschließt. Über die vergangene Dekade hat die Bewegung in Nordkurdistan Strukturen für eine demokratische, ökologische und geschlechterbefreite Gesellschaft trotz schwerer Repression und Kriegszustand aufgebaut.

Wie die KCK, die die Strukturen der demokratischen Autonomie gesamt Kurdistans erfasst, umfasst der Demokratik Toplum Kongresi (DTK) der Demokratische Gesellschaftskonkress das Rätesystem in der Region Bakur (oder Nordkurdistan), welches innerhalb der Grenzen des türkischen Nationalstaates liegt. Die föderale Struktur der DTK beginnt auf der Ebene des Dorfes oder der städtischen Nachbarschaft bis über Stadtteil, Stadt und schließlich zur Region Bakur. Auf der höchsten Ebene der Föderation schließt die DTK-Versammlung alle (abwählbaren) Delegierten von mehr als 500 zivilen gesellschaftlichen Organisationen, Gewerkschaften und politischen Parteien mit einer 40 prozentigen Frauenquote und für religiöse Minderheiten reservierten Sitze in den Versammlungen und einem dualen Beisitzendensystem, das einen Sitz für eine männliche, den anderen für eine weibliche Person reserviert ein. In klassischem Graswurzelstil bemühen sich die Teilnehmenden um die Lösung lokaler Probleme auf lokaler Ebene und nur dann, wenn sie keine Lösung finden können, suchen sie danach auf der nächst höheren Ebene. Nicht-KurdInnen, einschließlich der aserbaidschanischen und aramäischen Communities, nehmen an einigen der Versammlungen teil. Außerdem organisieren sich junge Leute sowohl in als auch parallel zu diesen Strukturen unter dem Slogan »Kapitalismus ist ein alter Mann – wir sind eine Bewegung der Vereinigten Kräfte der Frauen und Jugend.« Dieser Vergleich betont die Notwendigkeit der Organisation der Jugend und der Frauen zur Überwindung der etablierten hierachischen Altlasten in der kurdischen Gesellschaft und reflektiert darüber hinaus die Philosophie, dass Jugend keine Frage des tatsächlichen Alters sondern eher eine Einstellung ähnlich des zapatistischen Slogan »caminando prequntando«, »Fragend schreiten wir voran« darstellt.

Diese föderale Struktur der Räte und zivilen Organisationen wurde aufgebaut, um durch demokratische Prozesse von unten nach oben alltägliche Probleme zu lösen und die Selbstorganisation der ganzen Bevölkerung zu unterstützen. Daher schlägt das Konzept demokratischer Autonomie lokale und regionale Strukturen vor, durch die kulturelle Unterschiedlichkeiten frei ausgedrückt werden können, statt einfach nur nach Begriffen wie Ethnie oder Gebiet zu definieren. Dadurch gibt es eine farbenfrohe Vielfalt an Bildungseinrichtungen, kulturellen und sozialen Organisationen und Experimente beim Aufbau kooperativer Ökonomie in Nordkurdistan. Es lohnt sich, die Mediationskomitees herauszustellen, die darauf zielen, einen Konsens zwischen Konfliktparteien und dadurch eine langfristige Einigung herzustellen statt das Problem durch Bestrafung nur aufzuschieben. Das führt oft zu langen Diskussionen, zeigt aber ein Konzept kollektiver Verantwortung in dem die Beschuldigten nicht durch Strafe oder Haft ausgeschlossen, sondern auf die Ungerechtigkeit und den Schaden den ihr Verhalten angerichtet hat, aufmerksam gemacht werden sollen. Das hat staatliche Gerichte in vielen Hochburgen der kurdischen Befreiungsbewegung überflüssig gemacht. Neben diesen Mediationskomitees und anderen Gremien findest du soziale Zentren für die Jugend und die Frauen auf allen Ebenen der Gesellschaft, in denen sich die Aktivitäten von kurdischen Sprachkursen und politischen Seminaren über Musik bis zu Theatergruppen erstrecken.

Das ist der Zusammenhang in welchem wir den Erfolg der anhaltenden Revolution in Rojava verstehen sollten. Die kurdische Bewegung kann auf 40 Jahre radikalen Kampfes mit ihren Fehlern, Reflexionen und Fortschritten zurück blicken. Obwohl der Aufbau demokratischer Autonomie im Norden Kurdistans sich als sehr viel chaotischer heraus gestellt hat, mit den alten Staatsstrukturen verfangen bleibt und in einen sozialen und ökologischen statt einen militärischen Krieg verhaftet bleibt, ist er weitgehend vergleichbar mit den Prozessen in Rojava.

Türkische Polizei verhindert die Flucht syrischer Kurd_innen vor dem IS.

Eine Frage, die AnarchistInnen über diesen Kampf stellen ist wie stark die frische antiautoritäre Ausrichtung des kurdischen Kampfes – einschließlich der Strukturen des demokratischen Konföderalismus, der Prinzipien der Frauenbefreiung und so weiter – von oben nach unten, von Abdullah Öcalan und der Führerschaft der PKK, kommen. Es würde wie ein Widerspruch erscheinen wenn eine antiautoritäre Revolution von oben dirigiert würde! Was ist eure Perspektive zum Verhältnis zwischen der Ideologie der FührerInnen in diesen Organisationen und der Transformation sozialer Verhältnisse und Strukturen in Kurdistan?

Das ist ein ziemlich schwieriges Thema, das wir ziemlich oft diskutieren und das, zumindest in Deutschland, mit einer bestimmten, von schlechten Erfahrungen mit revolutionären Kämpfen, abstammenden Angst verknüpft ist. Sicher, die Frage der revolutionären Führung und Initiative ist eine der schwierigsten wenn wir uns mit Selbstorganisation auseinandersetzen und das ist sie auch für die kurdische Bewegung. Die wirklichen Fragen sind: Wie kann es einen drastischen revolutionären Wandel in der Gesellschaft geben? Wer bewertet, was gebraucht wird? Und wer entscheidet in welche Richtung es gehen soll? Die Antwort muss sein: jede, zu allem, immer. Vielleicht kann die Entwicklungsgeschichte der kurdischen Bewegung und der PKK ein nützliches Beispiel bieten, das in der westlichen Welt erst noch ganz verstanden werden muss. Öcalan und die PKK geben nicht einfach ein festes ideologisches Schema oder ein dogmatisches System, wie der von den früheren sozialistischen Staaten behauptete eine und einzig wahre Weg des Marxismus-Leninismus, heraus. Vielleicht täuscht uns die Ästhetik des revolutionären Sozialismus – der bärtige Führer und der düstere, selbstlose Guerillakämpfer – wenn wir nicht hinter das Bild blicken und weiter nachforschen.

Hinter den Bart blicken?

Was wir heute in Kurdistan sehen, sowohl in Rojava als auch im Norden, ist eine neue Methode durch die die ganze Gesellschaft zu Bewusstsein gelangt. Wenn wir die Hartnäckigkeit des Staates und patriarchaler Unterdrückung als ein Problem dessen verstehen, dass sich die Leute ihrer Widerstandsmöglichkeiten nicht bewusst sind, sehen wir die Wichtigkeit darin, das gesellschaftliche Bewusstsein zu heben. In allen Teilen Kurdistans in denen sich die Befreiungsbewegung organisiert finden wir Komitees, die sogenannte Akademien bilden. Eine Akademie kann viele verschiedene Formen annehmen, aber am einfachsten verstehen wir sie als einen kollektiven Raum zur Schaffung eines gemeinsames Bewusstseins. Manche können einfach eine Diskussionsgruppe sein, die sich einmal wöchentlich trifft, aber es gibt auch längere, intensiviere, an denen alle AktivistInnen beteiligt sind (und seit einigen Jahren kann jedes Gesellschaftsmitglied beitreten). Die Akademien sind immer mit anderen sozialen Organisationen verknüpft; die Jugendgruppen und die Frauenbewegung haben ihre eigenen Akademien, während andere Gruppen allgemeine Akademien für alle organisieren. Jede davon betont Selbstermächtigung und in diesen Institutionen werden die Vorschläge, die Öcalan und die PKK anbieten intensiv diskutiert und kritisiert. Und diese AnführerInnen sind nicht die einzigen, die Vorschläge machen: Jede Institution, jedes Komitee und jede einzelne kann ihre eigenen Ideen verbreiten.

Diese Praxis entwickelte sich aus dem Prozess politischer Bildung innerhalb der alten PKK, wo es für alle Militanten und GuerillakämpferInnen üblich war, sowohl militärisches als auch ideologisches Training zu durchlaufen. Mit dem Aufkommen des neuen Paradigmas wurde klar: Das Ziel wäre nicht einfach eine gut ausgebildete philosophische Elite wie im alten Kadersystem des Leninismus, sondern die Entfaltung des Bewusstseins buchstäblich jeder Person, die am Prozess der Bildung einer neuen Gesellschaft teil hat. Wer sich selbst organisieren will, muss über sein Verhältnis zur Welt nachdenken, was bedeutet, sich der Erforschung der Philosophie zu widmen.

Eine Methode, die in diesen Akademien oft genutzt wird, würden wir vielleicht assoziative Analyse nennen. Wenn ein bestimmtes Thema diskutiert wird, bietet jede und jeder die eigenen Assoziationen damit an und durch den Prozess in dem jede Person ihre Eindrücke und Erfahrungen schildert während die anderen aufmerksam zuhören und sich um Verständnis bemühen, kann ein Konsens erreicht werden. Auf einer theoretischen Ebene negiert dieser Ansatz die Möglichkeit der »Objektivität« und ersetzt sie durch eine Methode multipler Subjektivitäten. Wenn du deine eigene Position in einer konkreten Debatte herausfindest, indem du dir sowohl deinen eigenen Willen zu handeln als auch die in dir aufkommenden Ängste klarmachst, wird daraus klar ersichtlich, was strategisch notwendig ist.

Heute hat die Rolle und Position der Militanten in der PKK und PAJK (die Frauenbefreiungspartei) sich im Vergleich zu den 1980ern und ’90ern verändert. Ihr Selbstbild hat sich dem angenähert, was wir als eine militante anarchistische Persönlichkeit verstehen könnten: Kämpfen für Selbstermächtigung und gegenseitige Hilfe. Unter dem alten Paradigma mussten die Militanten selbstlos und aufopferungsvoll sein. Obwohl diese Konzeption nicht gänzlich verschwunden ist, verändert sie sich, da die Diskussionen in der Bewegung Dichotomien zurückweisen und den Kampf für sowohl einen individuellen Fortschritt der Selbstveränderung als auch für kollektive Schönheit und Stärke unterstützen. Mit der Veränderung der Konzeption der Rolle der Militanten, wiesen sie die überholten Ideen, eine Avantgarde zu werden, zurück. Stattdessen geht es darum, eine gut organisierte, säkular enthaltsame Lebenweise zu führen, die auf der Idee basiert, dass der Kampf für unsere Freundinnen und für die Revolution der beste Weg ist, ein Leben zu leben.

Was habt ihr aus eurer Zeit in Kurdistan für radikale Kämpfe in Deutschland und darüber hinaus gelernt?

Meine Auseinandersetzung mit der kurdischen Befreiungsbewegung, als ein historischer Kampf, als eine Gesellschaft in Rebellion, hat es mir tatsächlich ermöglicht, wieder zu glauben – nicht nur, dass diese Welt absolut inakzeptabel ist, auch was die Möglichkeit des Kampfes für eine andere Welt an geht. Ich würde das die Rückeroberung der Kraft der Phantasie nennen, was ein riesiges Gefühl der Motivation entfesselt hat und auch eine bestimmte Ernsthaftigkeit in vielen unserer FreundInnen. Es ist überwältigend, die riesige kollektive Bewusstseinsbildung in der kurdischen Gesellschaft zu sehen.

Im Rückblick auf das westliche Leben in den Metropolen, scheint es so offensichtlich, wie Patriarchat und Kapitalismus sich in jeden Winkel unseres Lebens ausgebreitet haben. Ich denke, wir haben riesige Sprünge in unserem Verständnis unserer eigenen Geschichte und Gesellschaft durch die Diskussionen mit unseren FreundInnen der kurdischen Jugendbewegung gemacht. Im Besonderen, hat mir deren Fokus auf Philosophie und Selbstwahrnehmung klar gemacht, wie sehr wir als AnarchistInnen oder radikale Linke durch Moralismus gehandicapt sind. Wir haben gelernt, unser Verhalten an diesen Begriffen von gut/schlecht, richtig/falsch und Schuld/Mitleid auszurichten, die uns durch Religion und die akademische Welt und Debatte eingehämmert wurden, statt an unseren tatsächlichen gemeinsamen ethischen Vorstellungen und Freundschaften. Um den Prozess der Selbstbefreiung zu beginnen, müssen wir unsere liberale bürgerliche Persönlichkeit und unser kapitalistisches Verhalten überwinden, um den innerlichen Staat mental zu bezwingen.

Im Kontrast dazu, sind wir in Deutschland und im Westen insgesamt konfrontiert mit internalisiertem Individualismus und Liberalismus, nicht nur in der Gesellschaft insgesamt sondern auch in unserer politischen »Szene« – eine Szene mit einer generellen Tendenz hin zu einem nihilistischen Lifestyle und identitärer Politik. Meiner Beobachtung nach geben die meisten Militanten unserer Szene – so wie der Großteil der liberalen Jugend – der »Freiheit« des Individuums absoluten Vorrang, indem sie einfach in einer Umgebung wo alles erlaubt ist, jedem Drang und jeder Neigung die ihnen gerade unter kommt nachgeben. Gleichzeitig gibt es ein Gefühl des Ausgeliefertseins und daher eine Akzeptanz der vorgegebenen, unveränderbaren Umgebung. Das führt einerseits oft zu einem pessimistischen Empfinden von Lähmung, Hoffnungslosigkeit und Depression, andererseits zu einer schuldgetriebenen Neu-Verankerung in Identitäten, die aus den Machtstrukturen abgeleitet sind, die sie kritisieren (Weiß, Mittelschicht, Privilegiert) und einem Untertauchen in verschiedenen Formen kommerzialisierter Lifestyle-Szenen (Punk, Hardcore, radikale Linke, »Anarchismus«…), die alle aus diesem omnipräsenten Individualismus entspringen und zu ihm führen. Ich denke, es wäre interessant, den Einfluss der 1968er Jugendrebellionen zu analysieren, denn die haben dieser Entwicklung viel Schwung gegeben. Wir sind konfrontiert mit einer Masse von Leuten um uns, die die bewusstseinslose Gesellschaft, Politikerinnen, Cops oder Faschisten als Feindbild beschuldigen, aber ihren Bezug zur Realität und ihre eigene Verantwortung und Handlungsfähigkeit komplett verloren haben. Stattdessen leben die meisten von uns weiter das liberale Märchen ökonomischen Erfolgs und einer sicheren Rente, indem sie sich in Studium, Arbeit, Freizeit, privatisierten politischen Aktivismus, Ferien, Partys, Drogen und Konsum-Selbstmord flüchten!

Es ist nur ein schmaler Grad zwischen dieser zeitgenössischen westlichen Konzeption des Anarchismus und dem Liberalismus. Obwohl klassische AnarchistInnen wie Emma Goldman die Notwendigkeit positiver Freiheit, »Freiheit zu«, anerkannten, fokussiert Liberalismus auf negative Freiheit, oder »Freiheit von«, der Vorstellung, dass Menschen frei insofern sind, als dass sie nicht durch Regeln und Gesetze eingeschränkt werden. Dieses Verständnis von Freiheit passt gut in den Ethos von Individualismus, Privateigentum und Kapitalismus und verleugnet komplett die dialektische Beziehung zwischen Individuum und Gesellschaft und den Fakt, dass Menschen immer schon als soziale Individuen in Communities gelebt haben und durch Regeln und Werte verbunden waren. Wir denken, dass menschliche Werte sozial determiniert sind und dass soziale Regeln und Vorschriften zu ihrer Aufrechterhaltung keine Einschränkung einer zuvor bestehenden Freiheit darstellen, sondern einen Teil der Bedingungen eines freien Lebens darstellen, welches individuelle und kollektive Freiheit beinhalten muss. Als ein Gegenbeispiel zur liberalen »Freiheit« westlicher anarchistischer und radikal linker Szenen lohnt der Hinweis, dass die kurdische Jugendbewegung sehr strikt gegen Drogenhandel und -missbrauch vorgeht, da der türkische Staat offensichtlich versucht, die Bewegung nicht nur durch Tränengas und Inhaftierungen sondern mit allen verfügbaren Möglichkeiten moderner Aufstandsbekämpfung inklusive der Unterstützung von Drogenhandel und Prostitution zu zerstören versucht. Wir denken, das es eine kollektive Reflexion darüber geben muss, wie Konsummentalität, Individualismus und andere Formen des Liberalismus als eine Form der Aufstandsbekämpfung wirken und wie sehr wir sie in unsere Denkstrukturen und unser Verhalten aufgenommen haben. Wir müssen Selbstverteidigung organisieren gegen die Angriffe dieser kapitalistischen Ideologien, die uns zu nichts mehr als Konsumierenden und »eigenverantwortlichen« Ich-AGs / ArbeiterInnen reduzieren.

Im Kontrast zu diesen liberalen Illusionen haben uns unsere Erfahrungen mit FreundInnen der kurdischen Bewegung eine Perspektive auf die Wichtigkeit der auf kollektiven Werten und Ethik statt politischen und identitären Standpunkten fokussierten Auflösung dieser Polarisierung zwischen Individuum und Gesellschaft gegeben. Vom Beispiel der kurdischen Bewegung inspiriert denke ich, sollten wir als Teil des Prozesses der Entwicklung des Selbstbewusstseins, das wir brauchen werden, um das westliche Dilemma mit dem wir konfrontiert sind aufzulösen, unsere Geschichte studieren und sie uns wieder aneignen. Durch die Kritik an der Zivilisation und die Analyse unseres kommunalen und demokratischen Erbes können wir historisches Bewusstsein und Vertrauen in das was wir tun entwickeln. Abdullah Öcalan versuchte in seinen Gefängnisschriften den historischen Hintergrund des kurdischen Kampfes sehr genau zu erforschen, um die Möglichkeit zu haben, ihn mit früheren Erfahrungen revolutionärer Kämpfe zu vergleichen. Viele in der PKK greifen heute auf diese Geschichte zurück, um ihre eigene Ideologie und Strategien kritisch zu reflektieren, weben sie in ihrem Prozess der Selbst-Hinterfragung und der Bildung ihrer eigenen Philosophie der Befreiung – einer revolutionären Mythologie, vielleicht.

Und zur selben Zeit bedeutet das, sich nicht in Nostalgie zu verfangen. Stattdessen ist Inspiration zu ziehen aus der erneuernden Macht der Jugend, aus ständigem fragend Voranschreiten. Habe keine Angst vor Selbstentwicklung; sei offen für Kritik und lerne aus den Fehlern anderer. Lass den Prozess revolutionärer Veränderung bei dir beginnen. Vielleicht ist das auch eine ziemlich gute Sache, an die europäische AnarchistInnen denken sollten: Der revolutionäre Prozess ist niemals etwas außerhalb deiner selbst; er muss identisch sein mit deinem eigenen Fortschritt in Richtung Freiheit, sodass du zum symbiotischen Teil einer freien Gesellschaft wirst. Ich denke alle militanten AnarchistInnen sollten unsere historische Verantwortung und die Möglichkeit, unsere gemeinsame Macht und Handlungsfähigkeit zu sammeln annehmen, um eine auf Kreativität, Diversität und Autonomie basierte Gesellschaft aufzubauen und zu verteidigen. Das aber bedeutet, so leben zu müssen, wie wir denken und reden. Also lasst und unsere liberalen Ideen auf dem Misthaufen der Geschichte entsorgen. Nur dann werden wir fähig sein, uns über die theoretische Vereinbarung »alles zu verändern«, wie ihr es nennen würdet, hinauskommen!

KurdInnen in der Türkei protestieren in Solidarität mit denen, die in Kobanê kämpfen.

Die Verbindung zwischen AnarchistInnen oder der radikalen Linken und dem kurdischen Befreiungskampf scheint in Deutschland stark zu sein; viele AnarchistInnen sind aktiv in solidarischen Strukturen und ziehen viel Inspiration aus Rojava und anderswo in Kurdistan. Könnt ihr über die Geschichte dieser solidarischen Verbundenheit berichten? Wie sehen einige der konkreten Formen aus, die die Solidarität angenommen hat?

Zunächst bildeten sich in Deutschland Solidaritätsgruppen aus der Hausbesetzungsbewegung. Seit den 1990ern gab es auch deutsche GenossInnen, die am Guerillakampf teilnahmen. Manche davon, wie Şehîd Ronahi (Andrea Wolf), starben im Krieg. Sie musste verschwinden, weil sie vom deutschen Staat wegen Aktionen der RAF verfolgt wurde, also schloss sie sich den Reihen der PKK an und kämpfte als Internationalistin. Es gab mehrere deutsche Militante, die sich dem bewaffneten kurdischen Kampf anschlossen, daher gibt es ein paar ältere GenossInnen, die ihre Erfahrungen teilen und die damaligen Fehler reflektieren können. In den ’90ern gab es von beiden Seiten ausgehend auch viele Probleme zwischen der deutschen Linken und der kurdischen Bewegung. Auf der einen Seite war die PKK noch immer im alten Paradigma verhaftet und so stark auf den Kampf in Kurdistan fokussiert, dass alles andere außen vor bliebt. Das machte es schwer eine richtige freundschaftliche Beziehung aufzubauen. Auf der anderen Seite bewahrten die Deutschen unser klassisches Muster und hielten Distanz, kritisierten ohne zu verstehen aus einer Arroganz der Metropolen heraus. Als Öcalan inhaftiert wurde und die Bewegung hart um ihr Überleben kämpfte, zerbrach diese schwache Solidarität.

Glücklicherweise begann, als das neue Paradigma aufkam ein neuer, allerdings sehr langsamer und zaghafter, Lernprozess. Deutsche GenossInnen besuchten erneut Kurdistan und knüpften Kontakte mit den Gruppen der Diaspora, während sich andere erneut dem Guerillakampf anschlossen. Die PKK versteht sich selbst als internationalistisch und es ist von großer Bedeutung für beide Seiten, wenn internationale Bindungen gestärkt werden. Es war immer schwer, sich zusammen mit den kurdischen Communities in der Diaspora zu organisieren und ehrlich gesagt ist das noch immer ein Problem. Obwohl ziemlich viele KurdInnen in Europa leben sind die Verbindungen zwischen ihnen und anderen europäischen Radikalen nicht sehr stark. Das hat verschiedene Ursachen: Eine davon ist der Umstand, dass die deutsche Gesellschaft ziemlich rassistisch ist und viele migrantische Communities sich als eine Art Selbstverteidigungsmechanismus nur mit ihren eigenen Leuten organisieren. Außerdem tendiert der Nationalismus unter den KurdInnen in der Diaspora stärker ausgeprägt zu sein und die Gesellschaft in der Diaspora ist oft noch immer an feudalen Grundsätzen organisiert. Aber in den 1990ern gab es gemeinsame Demonstrationen und auch heute demonstrieren deutsche und kurdische Gruppen wieder zusammen. Aber auf der Ebene gemeinsamer Selbstorganisation sind wir noch immer schwach.

Nach der Attacke auf Shengal und der Belagerung von Kobanê im letzten Jahr erhöhte sich die Aufmerksamkeit plötzlich und die gesamte radikale Szene Deutschlands erwachte. Seitdem hat sich langsam etwas verändert; mehr und mehr Leute versuchen ihren Weg runter nach Rojava zu finden und manche treten in die YPG/YPJ ein.

Welche Vorschläge würdet ihr AnarchistInnen in Nordamerika und sonst wo machen, wie sie vom kurdischen Befreiungskampf lernen und ihre Solidarität zeigen können?

Wir denken, AnarchistInnen sollten den kurdischen Befreiungskampf als ihren eigenen verstehen, als einen internationalistischen Kampf. Die GenossInnen in Kurdistan zu würdigen kann uns helfen, die liberalen Illusionen zu überwinden, von denen wir sprachen. Es muss eine Anerkennung, ein Bewusstsein über die Verantwortung für das Dilemma im Mittleren Osten geben. Geistige Offenheit und der Wille, sich philosophisch und theoretisch zur Ideologie der Bewegung zu bilden ist wichtig, sodass wir die Möglichkeiten in vielen Sprachen und Farben erfassen können. Das setzt voraus, dass wir den Kampf auch im Bezug auf Berichterstattung unterstützen, was ein Teil verschiedener Unterstützungsmöglichkeiten sein kann. Darüber hinaus gab es schon immer eine herzliche Einladung, tatsächlich nach Kurdistan zu gehen um zu lernen, zu kritisieren und Ideen über lokale und internationale Organisation zu verfeinern. Und wie unsere kurdischen FreundInnen wiederholt betonten, hängt es letztlich von uns in den westlichen Metropolen Lebenden ab, unsere eigenen revolutionären Bewegungen aufzubauen – das wäre die größte Hilfe, die wir ihnen bieten können, denn dies schafft die Möglichkeit gegenseitiger Verteidigung. Außerdem wird praktische Hilfe, soweit wir gehört haben, an verschiedenen Punkten benötigt: technisches Know-How, medizinisches Zeug, und alle Arten praktischer Dinge können hilfreich sein.

Könnt ihr uns ein Update zur jüngsten Welle staatlicher und sonstiger anti-kurdischer Repression in der Türkei geben? Wie reagiert die kurdische Bewegung auf diese Gewalt?

Im Moment befinden wir uns in einer eskalierenden Situation. Als Reaktion auf den massiven Stimmenverlust seiner Partei bei den Parlamentswahlen am 7. Juni erklärte der türkische Präsident Erdogan der kurdischen Bevölkerung den Krieg und beendete damit den von Öcalan 2013 begonnenen Friedensprozess. Seit dem Massaker in der Grenzstadt Suruç, das 34 jungen kurdischen und türkischen Radikalen auf ihrem Weg nach Kobanê Ende Juli ihr Leben raubte, gab es tausende von Inhaftierungen und Bombardements auf PKK Guerillalager sowohl in Bakur (Nordkurdistan/südöstliche Türkei) und in den Medya Verteidigungsgebieten in Bashur (Südkurdistan/Nordirak). Während sich seit Wochen pogromähnliche Angriffe gegen KurdInnen und andere soziale Bewegungen in Nordkurdistan und der gesamten Türkei ereignen, eskaliert der militärische Konflikt, wobei viele Militante und ZivilistInnen vom Staat erschossen wurden. Kürzlich belagerte die türkische Arme die Stadt Cizre für eine Woche, während türkische Ultranationalisten KurdInnen und Büros der HDP (einer kurdischen Partei) im ganzen Land attackierten. Viele kurdische Geschäfte wurden von UnterstützerInnen der AKP, Erdogans konservativer Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung, und Mitgliedern faschistischer Organisationen wie der Grauen Wölfe, der Jugendorganisation der Partei der faschistischen Nationalistischen Bewegung niedergebrannt. Ähnliche Attacken gegen Kurdinnen und andere Gegner des Krieges wurden jüngst in Europa verübt und während der deutsche Staat sich bezüglich dieser Attacken durch türkische Nationalisten bedeckt hält, wurden kurdische Militante kriminalisiert und Inhaftiert.

Von türkischen Luftschlägen getötete kurdische ZivilistInnen.

Rassistische türkische NationalistInnen greifen das Hauptquartier der kurdischen HDP an.

Angesichts dieser Gewalt entwickelte die Bewegung ein Modell namens »Theorie der legitimen Selbstverteidigung«, oder »Theorie der Rose«. Das ist eine Metapher, die auf der Idee basiert, dass jedes lebende Wesen seine eigene Schönheit verteidigen muss während es ums Überleben kämpft. Alle Lebewesen müssen Methoden der Selbstverteidigung entwickeln, die zu ihrer Lebensweise passen; zu wachsen und sich mit anderen verbünden – nicht mit dem Ziel, den Gegner zu vernichten, sondern ihn zu zwingen, seine Absicht anzugreifen fallen zu lassen. GuerillakämpferInnen diskutieren dies als eine defensive Strategie im militärischen Sinne, aber das funktioniert auch in anderen Zusammenhängen. Im Grunde können wir es als eine Methode der Selbstermächtigung verstehen. Lange Zeit taten die PKK Guerillas, unter der Voraussetzung, dass die türkische Regierung die Verhandlungen fortsetzt, nichts, denn sie wussten, dass sie nicht militärisch siegen könnten. Wenn du stark genug bist und deinen Weg gehst, wird es keine Notwendigkeit für Gewalt geben; es wird einfach eine Frage der Organisation. Dieses Verständnis der Selbstverteidigung ist ebenfalls Teil des neuen Paradigma.

[Mehr Infos zu den aktuellen Entwicklungen: ISKU, ANF – Anmerkung der ÜbersetzerInnen]

Angesichts des komplexen geopolitischen Zusammenhangs des kurdischen Kampfes – umzingelt von verschiedenen feindlichen Staaten und bewaffneten Streitkräften – was glaubt ihr, wird eine wirklich antiautoritäre Revolution brauchen, um sich in dieser Region zu festigen und zu bestehen?

Nunja, wie wir aus unserer Beschäftigung mit anderen Revolutionen quer durch die Geschichte gelernt haben: Die einzige Möglichkeit für eine Revolution zu bestehen ist ihre Ausbreitung, die Erweiterung ihres Horizonts und die Überwindung all der Grenzen die gesetzt wurden, sie einzudämmen. Wie unsere kurdischen GenossInnen erklären, gibt es zwei Säulen revolutionären Kampfes. Die erste und wichtigste ist der Prozess der Bildung demokratischer Autonomie; am Ende geht es einfach darum, wie wir leben möchten, wie wir unsere täglichen Leben organisieren möchten. Gerade jetzt ist es schwierig, diese Frage in den Mittelpunkt zu stellen, weil die ganze Region brennt und im Krieg gefangen ist. Daher ist die zweite Säule die Selbstverteidigung mit allen nötigen Mitteln. Beide sind wesentlich und müssen auf verschiedenen Ebenen angewandt werden. Revolutionäre Erhebungen durch die Geschichte Europas und anderswo, die eine der Säulen vernachlässigten wurden zwangsläufig zerschlagen.

Es ist wirklich wichtig, die revolutionäre Position in Kurdistan zu stärken – nicht nur militärisch, auch durch den Aufbau von Verbindungen mit GenossInnen in der ganzen Welt. So wie die revolutionäre Erhebung in der Türkei sich ausbreitet und die Unterstützung aus dem Westen wächst, wird es für die regionalen Mächte schwieriger, die kurdische Bewegung anzugreifen. Darüber hinaus sollten wir das enorme Potential erkennen, das uns die Erfahrungen dieser Bewegung für die Erweiterung unserer eigenen Perspektive bieten. Sie organisierten sich in einer Situation die von Anfang an weit verzweifelter war als die unsere und waren dennoch erfolgreich. Ich würde sagen, es ist ein bestimmter Weg des Umgangs mit einer konkreten Gefahr, der sie derart stark gemacht hat. Außerdem wäre es ziemlich produktiv, Erfahrungen auszutauschen. In konkreten Fragen zur Selbstorganisation sind die Methoden und Werkzeuge anarchistischer Bewegungen im Westen ziemlich kreativ und könnten eine Menge Unterstützung bieten.

Gerade jetzt haben wir im Mittleren Osten die außergewöhnliche Situation eines relativen Machtausgleichs – und Rojava liegt im Auge des Sturmes. Da ist die große Vision eines politischen sunnitischen Islam, die hauptsächlich von den Regierungen der Türkei und Saudi-Arabien vorangetrieben wird. Daneben gibt es die schiitischen Staaten des Iran, Irak und die Überreste des Assad-Regime in Syrien. Außerdem die NATO, der die Türkei angehört, die aber auch ihre eigenen Interessen durchsetzt. Dazwischen haben wir zudem den Islamischen Staat (IS), eine Zombie-Armee die von keiner Macht mehr kontrolliert werden kann, obwohl sie möglicherweise ursprünglich aufgebaut und unterstützt wurde, um den kurdischen Widerstands und das Regime in Damaskus zu zerschmettern. In dieser chaotischen Situation also ist Rojava noch immer notwendig für die NATO. Zum Beispiel als die einzig verlässliche Option in der Region, die fähig war, dem IS zu trotzen. Ja, insofern ist Rojava irgendwie zwischen all diesen Militärmächten gefangen. Aber wie wir aus vielen Revolutionen gelernt haben, ist Krieg nicht einfach eine Frage der Mathematik. Es ist mehr eine bestimmte Art des Kampfes und eine Frage des Bewusstseins. Daraus sollten wir lernen.

Könnt ihr erklären, was ihr mit dieser »Art des Kampfes« oder der spezielle Form von Bewusstsein im bewaffneten Kampf meint, dass den kurdischen Widerstand ausmacht?

Lass mich eine Geschichte wiedergeben, die mir einst ein Freund erzählte. Er nahm am Kandil-Krieg 2011 teil. Damals gab es eine pragmatische Allianz zwischen der Türkei und dem Iran: Beide hatten ein Problem mit der kurdischen Bewegung und hatten Angst vor den militärischen Möglichkeiten, die die Guerillas hatten. Kandil ist am südlichen Ende der Mediya Verteidigungsgebiete, den durch die Guerillas kontrollierten Bergen in den Grenzregionen des Iran, Irak und der Türkei. Er erzählte mir von einer Situation als anderthalb Tausend Pasdaran, die iranischen Infanterieregimente, versuchten den Hügel zu stürmen auf dem sich die Guerillas verschanzten. Es gab nur etwa 30 GenossInnen, die ihren Berg verteidigten. Er erklärte, dass, was die iranische Armee gegen sie einzusetzen versuchte, lediglich ihre Kugeln und ihre Angst vor Bestrafung durch ihre Führer war. Sie rannten blindlings den Berg herauf und wurden zurückgeschlagen. Sie hatten keine Überzeugung, keine Kraft und keine Freundschaft untereinander. Auf der anderen Seite, als seine GenossInnen ihre Position verteidigten, benutzten sie nicht nur ihre Waffen, wie er sagte. Sie kämpften für ihre geplünderten Dörfer, für ihre zerrissenen Familien, mit ihren gefallenen FreundInnen im Herzen, mit der Gewissheit, dass die angreifende Armee die Berge und Wälder hinter ihnen niederbrennen und die Natur ihres Landes zerstören würde. Sie kämpften für die, die zu schwach waren es selbst zu tun, für all die Teile der Gesellschaft, die hinter ihnen standen und ihnen den Rücken stärkten. Vielleicht ist es schwer zu verstehen, wenn du es nicht selbst fühlst. Aber ihre Kraft wurde gestärkt durch viele FreundInnen, der historischen Erfahrung der Unterdrückung, gegenseitigem Schutz – einer Liebe zum Leben und einem Glauben an sich selbst.

All diese Dinge, so sagte er, stehen an oberster Stelle, wenn du neben deinen FreundInnen auf deinem Posten sitzt und deine Waffen zur Verteidigung erhebst: Dein Vertrauen in deine GenossInnen, deine Dankbarkeit für die in den Tälern lebenden, die an eine befreite Gesellschaft glauben, die die Felder bestellen, von denen du lebst, deine Traurigkeit über den Horror, den der Staat über deine FreundInnen und Familien brachte. Und am Ende ist da die Kugel, die du auf diejenigen schießt, die in deine Richtung stolpern. Wie könnten die jemals gewinnen, fragte er lächelnd.

Selbst der Kämpfer, der objektiv am schwächsten ist, kann große Kräfte heraufbeschwören, wenn er um ihretwillen und für jene, denen sein Herz gehört kämpft ohne in eine Richtung oder Ideologie gedrängt oder gezwungen zu werden, etwas zu tun, dass er nicht will. Die, die für ihre Gesellschaft und die symbiotischen Beziehungen, die sie beschützt und genährt haben, kämpfen, werden immer konventionelle Methoden, die auf schierer Zerstörung, Hegemonie-Interessen und Strategien der Feindseligkeit basieren, schlagen. Das erinnerte mich an die Worte, die einige philosophische FreundInnen aus dem Westen einst sagten: die Realität mit deinen eigenen Sehnsüchten zu verbinden hat revolutionäre Bedeutung. Wenn du wirklich weißt, wofür du kämpfst, wenn du das Wesentliche der Situation in der du steckst begreifst, kannst du das mit deinem Willen zu leben verknüpfen, was dir Schönheit sogar über den Tod hinaus verleiht. Diese Guerillas erklärten mir, dass sie sich als SchützerInnen des Lebens verstehen, die ihre eigenen Fähigkeiten einsetzen, um das Leben ihrer Gesellschaft zu beschützen. Das hat mich sehr beeindruckt.

Das wirft auch die Frage auf: Woher wird die revolutionäre Energie für den Westen kommen? Wir verstehen kaum unsere eigene Situation; gedrängt in pragmatische Entscheidungen in einem komplexen System der Abhängigkeiten. Vielleicht ist das die Lektion, die wir selbst zu lernen haben: Was ist die Wahrheit in unserer gemeinsamen Situation, die wir verstehen müssen um zu beginnen? Das ist der gleiche Grund warum derzeit keine andere Armee die Kräfte des IS in Syrien zurück drängen kann. In der Verteidigung von Kobanê hat die YPG/YPJ ihre Verteidigung auf genau dieses Bewusstsein gestützt. Wer konnte schon glauben, dass sie ihre Stadt befreien würden; das geht über Rationalismus hinaus. Es hat mehr zu tun mit Vertrauen in dich selbst und deine revolutionäre Kraft, die aus deiner Leidenschaft zu leben entspringt. Das ist, was beinahe aus dir heraus geprügelt worden wäre, wenn du im westlichen Kapitalismus aufgewachsen bist.

Ein anderer Freund ergänzte, dass, wenn du wirklich eine auf nicht-repressiven Beziehungen basierende neue Gesellschaft aufbauen willst, du versuchst, etwas zu erschaffen, dass es noch nicht gibt. Das gestaltet eine Teil einer neuen Welt, einer anderen Welt. Wie könntest du das je von deinem heutigen Blickwinkel rational verstehen? Es findet sich nicht in den Büchern. Du musst verrückt werden, um das Bestehende zu überwinden; du musst überzeugt werden von deiner Phantasie und deiner Leidenschaft. Das ist euer Problem in Europa, schloss er: Ihr habt vergessen, wie das geht.